13. Juli 2017

Unternehmerische Verantwortung oder Marketingstrategie?

Als Schnittstelle zwischen Urproduktion und Verbrauchern sieht sich der Handel zunehmend in der Pflicht, Umwelt- und Sozialkriterien für die Erzeugung von Agrarprodukten aufzugreifen und deren Erfüllung mit eigenen Vorgaben sicherzustellen. So existiert heute nicht nur das GlobalG.A.P. (Gute Agrarpraxis), eine Initiative von Einzelhändlern, als Zertifizierungssystem für Agrarprodukte. Auch Handelsketten wie Aldi, EDEKA, Lidl, Rewe oder PENNY haben Maßnahmen ergriffen, mit denen die Übernahme von Verantwortung zum Ausdruck gebracht und vermeintliche Verbraucherwünsche berücksichtigt werden sollen.

Sei es nun das Angebot von Frischmilch und Milcherzeugnissen, bei deren Erzeugung garantiert auf den Einsatz gentechnisch veränderter Futtermittel verzichtet wurde, oder die Mitgliedschaft in der Initiative Tierwohl – die Zahl und Vielfalt der Ansätze sind groß (vgl. Auflistung unten). Und keine Frage: Angesichts der globalen Warenströme im Food- wie im Non-Food-Bereich obliegt es auch dem Handel – beispielsweise bei der Einfuhr von Produkten – dafür Sorge zu tragen, dass in Deutschland geltende gesetzliche Vorgaben zu Qualität und Sicherheit eingehalten werden.

Viele dieser Maßnahmen wirken sich aber auch direkt auf die Milchwirtschaft in Deutschland aus. Hierzu zählen zum Beispiel Projekte und Kooperationen mit einzelnen Umwelt- und Naturschutzverbänden. Zum Teil werden durch Nachhaltigkeitsprogramme vom Handel sogar Vorgaben festgesetzt, die weit über die hohen, in Deutschland geltenden gesetzlichen Produktionsstandards hinausgehen.

Auf der Produktionsebene stoßen nicht alle Maßnahmen des Handels in der Urproduktion auf positive Resonanz. Ein Ansatz wie die Initiative Tierwohl wird allgemein begrüßt und eine flächendeckende Honorierung von entsprechenden Mehrleistungen der Landwirte befürwortet. Anders sieht dies bei starren Vorgaben zur Fütterung von Milchvieh ohne gentechnisch veränderte Futtermittel aus oder auch bei der Aushebelung der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln durch strengere, vom Handel gesetzte Grenzwerte. Solche Ansätze werden in der Landwirtschaft zum Teil fachlich kritisch gesehen, da sie einerseits keine nennenswerte Steigerung des Nachhaltigkeitswerts bringen, andererseits aber mit Mehrausgaben bei der Produktion die Erzeuger einseitig belasten und alleine dem Handel Wettbewerbsvorteile ermöglichen. Aus Sicht der Landwirte werden Brancheninitiativen dem Thema „Nachhaltigkeit“ eher gerecht als eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen, die nicht miteinander verknüpft sind und isoliert für sich betrachtet nicht die gewünschte Wirkung erzielen.

DIALOG MILCH sprach zu diesem Thema mit Werner Hilse, Präsident des Niedersächsischen Landvolks.

Nachgefragt:

Werner Hilse, Präsident des Niedersächsischen Landvolks

DIALOG MILCH: Herr Hilse, wie schätzen Sie die Nachhaltigkeitsbestrebungen des Lebensmitteleinzelhandels ein: Agiert der Handel eher auf Druck von Umwelt- und Verbraucherschutzverbänden – oder aus eigenem Antrieb?

Werner Hilse: Der Handel sucht zunehmend nach Möglichkeiten, sich im Wettbewerb von anderen Marktteilnehmern abzuheben – es geht um Marktanteile. Selbstverständlich werden auch Argumente von Umwelt- und Verbraucherschutzorganisationen aufgegriffen, die Nachhaltigkeitsaspekte werden aber leider selten im Gesamtkontext gesehen.

Die niedersächsische Milchwirtschaft hat hier eine Vorreiterrolle übernommen und bereits im Jahr 2011 zusammen mit dem Thünen-Institut für Betriebswirtschaft ein Kooperationsprojekt mit dem Titel „Nachhaltige Milchproduktion in Niedersachsen“ ins Leben gerufen. Erste Ergebnisse der Studie mit Zahlen, Daten und Fakten zu den vier Nachhaltigkeitsfaktoren Ökologie, Tierethik, Ökonomie und Soziales wurden 2014 in einer Broschüre mit dem Titel „Nachhaltigkeit und Verantwortung in der Milcherzeugung“ veröffentlicht.

Diese ersten Erkenntnisse dienten als Grundlage zur Etablierung eines bundesweit anwendbaren Nachhaltigkeitsmoduls. Viele Aspekte fließen auch bei der laufenden Überarbeitung des bereits seit Jahren etablierten QM-Standards mit ein, und zwar im Einvernehmen mit der landwirtschaftlichen Praxis. Für die Landwirtschaft ist es außerordentlich wichtig, dass auch der Einzelhandel die Brancheninitiative zum Thema Nachhaltigkeit anerkennt. Es darf keinen einseitigen Wettbewerb um höhere Qualitäts- und Produktionsstandards geben.

DIALOG MILCH: Für die Vermarktung von Milch werden den Erzeugern zum Teil Vorgaben gemacht, die über in Deutschland geltende gesetzliche Regelungen hinausgehen. Wie sinnvoll ist das aus Ihrer Sicht, beispielsweise im Hinblick auf den Verzicht auf gentechnisch erzeugte Futtermittel?

Werner Hilse: Geltende gesetzliche Regelungen stellen bereits seit Jahren sicher, dass gentechnisch veränderte Lebensmittel gekennzeichnet werden müssen, wenn sie das Produkt direkt betreffen, z. B. Sojaöl aus gentechnisch veränderten Sojabohnen.

Regelungen darüber hinaus bringen dem Verbraucher aus unserer Sicht keinen messbaren Mehrwert. Die Vermarktung von Milch, die ohne gentechnisch erzeugte Futtermittel erzeugt wird, verursacht höhere Kosten auf Erzeugerebene und erfordert einen zusätzlichen logistischen Aufwand in der Erfassung und Verarbeitung. Exportkunden in Drittländern sowie im europäischen Binnenmarkt fragen ein Siegel „Ohne Gentechnik“ nicht nach und zahlen dafür folglich auch nicht mehr. Die höheren Kosten, die in der Milcherzeugung durch zusätzliche Anforderungen entstehen, werden nicht durch Mehrerlöse gedeckt, sondern belasten die Erzeugerseite zusätzlich.

DIALOG MILCH: Wo geht nach Ihrer Einschätzung die weitere Reise hin: Wird die landwirtschaftliche Vertragsproduktion mit Vorgaben, die von der aufnehmenden Hand gemacht werden, an Bedeutung gewinnen? Und falls ja: Werden strengere Vorgaben dann auch über einen vertraglich geregelten Mehrpreis entlohnt?

Werner Hilse: Das ist eine sehr große Aufgabe. Selbstverständlich wird es Anforderungen geben, auf die Antworten der gesamten Branche folgen müssen. Es muss aber zugleich Konsens darüber bestehen, dass Standards nur im gegenseitigen Einvernehmen gesetzt werden können. Erzeuger, Verarbeiter und Handel müssen sich darüber im Klaren sein, dass die ökonomische Komponente der Nachhaltigkeit bei jeglichen Zusatzanforderungen mit in Betracht zu ziehen ist. Standards, die einen Mehraufwand erfordern, müssen auch eine höhere Bezahlung zur Folge haben.

Ausgewählte Vorgaben zu Nachhaltigkeit und Corporate Social Responsibility (CSR) im Lebensmitteleinzelhandel mit Bezug zur Milchwirtschaft

 Aldi Nord:

  • Weidemilch: Seit Mai 2016 ist in Norddeutschland regionale Weidemilch im Sortiment. Für die Eigenmarke Meierkamp müssen die Tiere aus kontrollierter Weidehaltung stammen und an mindestens 120 Tagen im Jahr jeweils mindestens sechs Stunden Auslauf auf Weiden haben und dort grasen können. Die Milchkühe erhalten zudem keine gentechnisch veränderten Futtermittel.
  • „Ohne Gentechnik“: Mitglied im „Verband Lebensmittel Ohne Gentechnik“ (VLOG)
  • Initiative Tierwohl: Die Sortimentsgestaltung soll Tierwohl berücksichtigen. Transparenz, Rückverfolgbarkeit, Kontrollen und Audits und ein proaktiver Dialog gehören dazu.

(Nach: https://www.aldi-nord.de/verantwortung/unser-verstaendnis.html)

Aldi Süd:

  • „Ohne Gentechnik“: Als Mitglied im „Verband Lebensmittel Ohne Gentechnik“ (VLOG) wird das Siegel bereits auf vielen Milchverpackungen verwendet.
  • Tierwohl: Mitgliedschaft in der Initiative Tierwohl und eine entsprechende Einkaufspolitik.
  • „7-Siegel-Kampagne“: 2016 wurde die Kampagne mit den Siegeln Fairtrade-, UTZ-, MSC-, V-, Bio-, FSC-, PEFC-Siegel gestartet. Damit soll über deren Bedeutung informiert und ein Beitrag zu nachhaltigem Konsum und gesunder Ernährung geleistet werden.
  • Nutzung aussortierter Waren: Aussortierte Waren wie Obst oder Gemüse werden an wohltätige Organisationen abgegeben oder gehen als Tierfutter an Landwirte.

(Nach: https://unternehmen.aldi-sued.de/de/verantwortung/)

EDEKA:

  • Initiative Tierwohl: Die Handelskette ist Gründungsmitglied.
  • „Ohne Gentechnik“: Als Mitglied im „Verband Lebensmittel Ohne Gentechnik“ (VLOG) hat EDEKA bereits einige entsprechend gekennzeichnete Artikel im Sortiment.
  • „Landwirtschaft für Artenvielfalt“: Das WWF-Modellprojekt zertifiziert ökologische Landwirtschaft.
  • Eigenmarkenprodukte: Seit Beginn der Partnerschaft mit dem WWF wurden über 300 Eigenmarkenprodukte mit anerkannten Umweltsiegeln zusätzlich auch mit dem WWF-Panda gekennzeichnet.
  • Klare Positionierung: Im Rahmen der Partnerschaft für Nachhaltigkeit wird immer wieder Stellung zu relevanten Themen bezogen.
  • Bio-Produkte: Rund 400 zertifizierte Produkte sind derzeit im Sortiment.

(Nach: https://www.edeka.de/nachhaltigkeit/verantwortung.jsp)

Lidl:

  • Tierwohl: Das Unternehmen ist Mitglied der Initiative Tierwohl.
  • „Ohne Gentechnik“: Mitglied im „Verband Lebensmittel Ohne Gentechnik“ (VLOG) und erster Händler mit einem entsprechenden deutschlandweiten Angebot an eigenen Milchprodukten.
  • Nachhaltiger Handel und Einkauf: Insbesondere bei den Rohstoffen Kaffee, Tee, Kakao und Palmöl sowie bei tierischen Erzeugnissen, Fisch, Schalentieren und deren Erzeugnissen wird auf nachhaltigen Handel und Einkauf geachtet.
  • Zucker- und Salzreduktion in Eigenmarken um 20 Prozent: Mit der Zucker- und Salzreduktionsstrategie 2025 sollen „Bewusste Ernährung und Bewegung“ in die Gesellschaft kommuniziert werden. Partnerschaft mit der Deutschen Diabetes-Hilfe und der Deutschen Schulsportstiftung zur Sensibilisierung der Kunden für Ernährung und Bewegung.

(Nach: https://www.lidl.de/de/gemeinsam-veraendern/s7372519)

PENNY:

  • Tierwohl: PENNY ist Gründungsmitglied der Initiative Tierwohl.
  • „Ohne Gentechnik“: Mitglied im „Verband Lebensmittel Ohne Gentechnik“ (VLOG)
  • QS-System: Die Nutzung des QS-Prüfsystems sorgt für Transparenz.
  • Kooperation: PENNY kooperiert mit dem NABU.

(Nach: http://www.penny.de/nachhaltigkeit/nachhaltigkeit-bei-penny/)

REWE:

  • Artgerechte Tierhaltung: Das Unternehmen ist Gründungsmitglied der Initiative Tierwohl und wurde von der „Compassion in World Farming“ für das langjährige Engagement für eine artgerechtere Tierhaltung ausgezeichnet.
  • „Ohne Gentechnik“: REWE ist seit 2012 Mitglied im Verband Lebensmittel ohne Gentechnik e.V. (VLOG) und setzt seit Anfang 2013 u.a. auf gentechnikfreie Fütterung bei Tieren, die für frische Hähnchenfleisch-Produkte der Eigenmarken verarbeitet werden.
  • QS-System: Die Nutzung des QS-Prüfsystems sorgt für Transparenz.
  • Kooperation: Seit 2010 gibt es eine Kooperation mit dem NABU für mehr Artenvielfalt. Das Label „PRO PLANET“ kennzeichnet Produkte, welche die Umwelt und Gesellschaft während ihrer Herstellung, Verarbeitung oder Verwendung wenig belasten.

(Nach: https://nachhaltig.rewe.de/projekte/nachhaltigkeitswochen/?ecid=sea_google_image-nachhaltigkeit_nachhaltigkeit_text-ad_nn_nn_nn_nn&gclid=CKf3tJfry9ICFXAA0wodOSEDgA)

Schlagwörter