„Milch wird wegen ihrer vielfältigen physiologischen Vorteile als Lebensmittel, ‚medical food‘ und ‚easy to eat and drink product‘ auch zukünftig unverzichtbar bleiben“, zeigte sich Professor Dr. Gunther Hirschfelder vom Lehrstuhl für Vergleichende Kulturwissenschaft der Universität Regensburg überzeugt „Sie ist seit 15.000 Jahren als Superfood fest in das menschliche Bewusstsein eingraviert, hat maßgeblich zu Wachstum und Entwicklung des menschlichen Gehirns beigetragen. Sie wird wegen ihrer vielfältigen Vorteile auch zukünftig unverzichtbar sein“, erklärte er bei dem Hintergrundgespräch zum Thema „Zwischen Versorgungssicherheit und ‚First-world-problems‘: Herausforderungen und Perspektiven für die Milch“.
Prof. Dr. Gunther Hirschfelder, Lehrstuhl für Vergleichende Kulturwissenschaft, Universität Regensburg
Mit dem Wissenschaftsjournalisten, Hochschullehrer und Autor Professor Dr. Jan Grossarth, Joachim Hartung vom Ministerium für Landwirtschaft und Verbraucherschutz des Landes NRW und Benedikt Langemeyer, Geschäftsführender Vorstand der Landesvereinigung der Milchwirtschaft NRW und Milchkuhhalter, diskutierte Prof. Hirschfelder über die gesellschaftliche Wahrnehmung von Tierhaltung, Milchkuhhaltung und Milch als Lebensmittel.
Prof. Dr. Jan Grossarth, Wissenschaftsjournalist, Hochschullehrer und Autor
Dafür oder dagegen?
Der Wunsch, sich klar zu positionieren, sei bei der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Tierhaltung und Produkten tierischen Ursprungs in der jüngeren Vergangenheit sehr stark gewesen. „Die Gesellschaft braucht binäre Codes – ein ‚dafür oder dagegen‘. Dabei gilt allerdings: je vermeintlich einfacher ein Sachverhalt ist, desto verwirrender ist die dahinter stehende Aussage. Milch steht heute als Metapher für Schuld – eine Schuld, die sich im ökologischen Fußabdruck äußert. Wird dieser – etwa im Vergleich zu Alternativen wie Sojadrinks – aber über die gesamte Kette berechnet, dann steht Milch mit ihren vielfältigen Koppelprodukten und Dienstleistungen viel besser da“, erläuterte Prof. Grossarth. Eine solche ökologische Bewertung müsse sehr komplexe Wirkungszusammenhänge berücksichtigen.
Konflikt derzeit kaum auflösbar
Die in der jüngeren Vergangenheit geführte Diskussion um Lebensmittel sei der Tatsache geschuldet, dass sie in einer wohlhabenden Gesellschaft geführt werde, die vielfach keine existenzielle Bedrohung verspüre. 2022 sei aber mit dem Krieg in der Ukraine eine Trendumkehr erkennbar geworden: Schon heute würden wirtschaftliche Probleme, Angst vor Energiekosten, Inflation und Arbeitslosigkeit zunehmend in den Fokus rücken. „Es ist uns bislang so gut gegangen, dass wir andere Probleme nicht auf dem Schirm hatten“, so Prof. Hirschfelder. Für Joachim Hartung zeigt sich in dieser Diskussion um Lebensmittel ein Konflikt, der kaum auflösbar ist: „Es gilt, trotzdem weiter zu informieren und die Vorteile etwa von Milch klar nach vorne zu stellen. Allerdings müssen wir uns auch darüber im Klaren sein, dass die Grenzen der Ökobilanzierung aus politischer Sicht noch nicht abschließend geklärt sind, bzw. aus politischer Sicht genutzt werden und damit angreifbar sind.“ Im Ministerium würden derzeit Projekte angestoßen, um zumindest auf nationaler Ebene eine einheitliche Linie für die Grenzen einer solchen Ökobilanzierung zu schaffen.
Joachim Hartung, Referat II-2, Pflanzenproduktion, Gartenbau, Tierhaltung, Agrartechnik, Landgestüt, Ministerium für Landwirtschaft und Verbraucherschutz des Landes NRW
Verlässliche Rahmenbedingungen nötig
Aktuell fehlen nach Einschätzung von Joachim Hartung in Deutschland die Perspektive und verlässliche Rahmenbedingungen für die Tierhaltung. „Die Politik tut sich schwer. Wenn der wissenschaftliche Beirat der Politik eine Reduzierung der Tierhaltung in Deutschland empfiehlt, dann hängen daran vielfältige Fragen, auch mit Blick auf die vor- und nachgelagerten Wirtschaftsbereiche sowie die ländlichen Räume. Einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden, ist eine Herausforderung“, so die Einschätzung von Joachim Hartung.
Benedikt Langemeyer, Geschäftsführender Vorstand der LVM, Milchkuhhalter
Extensivierung der falsche Schritt
Den CO2-Fußabdruck bewertet Landwirt Benedikt Langemeyer allerdings als gute Basis für den gesellschaftlichen Diskurs. „Der Umgang damit schafft Bewusstsein und ermöglicht so auch gezielte Änderungen der Praxis auf den Betrieben. Wir müssen aber auch berücksichtigen, dass in der Konsequenz der gesellschaftlichen Diskussion und der hier getroffenen politischen Maßnahmen die Produktivität auf unseren Flächen abnimmt. Und das ist angesichts der globalen Bedingungen und Anforderungen – Stichwort Bevölkerungswachstum – die falsche Reaktion. Im globalen Maßstab produzieren wir mit einem kleineren ökologischen Fußabdruck. Wir sollten deshalb hier nicht weniger, sondern weiter immer besser produzieren“, forderte Langemeyer.
Blick nach vorne
Die Teilnehmer der Gesprächsrunde waren sich einig, dass die aktuelle Diskussion um Tierhaltung und Milch eher zu „Aufregungsschäden“ führe. Der Versuch, globale Krisen regional zu lösen, sei zum Scheitern verurteilt. Nicht die Landwirtschaft oder die Milch seien „schuld“, sondern die „Erdverschlechterungsprobleme“, die sich in zunehmendem Druck auf die natürlichen Ressourcen und unter anderem auch in dem weiteren Bevölkerungswachstum zeigten. Auch müssten in der gesellschaftlichen Diskussion die Relationen wieder geradegerückt werden: Beispielsweise stünden den CO2-Emissionen der gesamten hessischen Landwirtschaft in Höhe von 2-3 Mio. t CO2 pro Jahr schon 13 Mio. t CO2 gegenüber, die allein vom Frankfurter Flughafen pro Jahr emittiert würden.
Auch mit Blick auf vegetarische oder vegane Alternativprodukte äußerte die Gesprächsrunde Kritik. Alternative Proteinquellen hätten – neben den Milchprodukten – zwar durchaus ihren Platz in der menschlichen Ernährung, man müsse aber berücksichtigen, dass sie vielfach hochkalorisch, hochverarbeitet und sehr salzreich seien.
Auch vor diesem Hintergrund verdiene die Milch, nicht in die Ecke gedrängt, sondern mit ihren vielfältigen positiven Wirkungen und Koppelprodukten sehr viel offensiver und positiver dargestellt zu werden. „Milch wird in Deutschland auch in 20 Jahren ein fester Bestandteil der Ernährung sein“, so die einhellige Überzeugung der Gesprächsteilnehmer.