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Künstliche Intelligenz (KI) im Kuhstall – praxisreif, ausbaufähig – und mit offenen Fragen …

Digitalisierung und Vernetzung, Landwirtschaft 4.0 und Precision Livestock Farming: Diese Begriffe tauchen auch im Zusammenhang mit der Milchkuhhaltung immer häufiger auf. DIALOG MILCH ist deshalb der Frage nachgegangen, ob KI für den Kuhstall taugt – wo sie dort schon zu finden ist – und auf welche ganz entscheidende Frage eine Antwort gefunden werden muss.

Die Digitalisierung ist in der Nutztierhaltung bereits weit verbreitet: elektronische Werkzeuge zur „Präzisionstierhaltung“ – dem sogenannten Precision Livestock Farming – sind beispielsweise in vielen Milchkuhbetrieben heute schon Standard. Diese Werkzeuge dienen im Wesentlichen einem Zweck: der Erfassung tierbezogener Daten. Diese dienen der Verbesserung von Tierwohl und Tiergesundheit sowie der Leistungskontrolle und -optimierung. Zudem bringen die digitalen Helfer eine spürbare Zeitersparnis und Entlastung für die Landwirte und Landwirtinnen.

Unterschiedlichste Sensoren erfassen in modernen Betrieben nicht nur Mengen- und Qualitätsparameter der Milch bei jedem Melkvorgang, sondern auch die Brunst- und Wiederkäuaktivitäten sowie das Liege-, Bewegungs- und Fressverhalten der Kühe. Das Entscheidende ist allerdings nicht die Erfassung der Daten, sondern deren Auswertung und die Ableitung von Handlungsempfehlungen.


KPedometer zur Messung der Bewegungsaktivität von Kühen (Quelle: https://www.lfl.bayern.de/ilt/digitalisierung/252250/index.php)

Stufe 1: schon Alltag
Für Prof. Joachim Herzberg vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz in Osnabrück ist „KI alles, was aus der Informatik kommt, mit Daten umgehen kann und daraus Schlüsse zieht.“[1]


Melkroboter – erster Schritt zu KI im Milchkuhstall (© agro-kontakt)

Mit Blick auf Melkroboter wird dieser Ansatz deutlich: Weder sind die Euter ganz sauber noch bei jeder Kuh gleich geformt. Zudem stehen die Kühe unterschiedlich, und auch die Lichtverhältnisse sind jeweils anders „… und trotzdem muss der Roboter so andocken, dass die Kuh das mag – kurzum: So ein Melkroboter ist mit ganz schön vielen Unsicherheiten konfrontiert.“ Genau darin, dass Daten erfasst und verarbeitet werden, „um dann mit unsicherem Wissen umgehen zu können“, zeigt sich laut Prof. Herzberg bereits die künstliche Intelligenz.

 

Stufe 2: zum Teil praxisreif
Prof. Reiner Brunsch vom Leibniz-Institut für Agrartechnik und Bioökonomie in Potsdam geht davon aus, dass bislang nur bei wenigen Milchkuhbetrieben ein durchgängiges Datenmanagement erfolgt, bei dem alle Teilbereiche des Stallmanagements in gleicher Weise abgedeckt und alle Daten zusammenführt analysiert werden[2]. Mit Blick auf die Analyse der gewonnenen Daten ist für den Wissenschaftler nämlich die entscheidende Frage, was von der Künstlichen Intelligenz ohne menschliches Zutun entschieden oder veranlasst werden sollte.

Durchaus umsetzbar und in einem Großteil der Milcherzeugerbetriebe bereits anzutreffen ist beispielsweise eine automatisierte Erkennung von Tieren, die aus der Norm fallen, d. h. weniger Milch geben, sich weniger bewegen oder weniger fressen, als es zu erwarten wäre. Möglich ist dies über einen Algorithmus, der einen Normbereich z. B. für einen Stall ohne kranke Tiere bestimmt. Treten bei einem Tier Werte außerhalb dieses Normbereichs auf, erkennt der Tierhalter dies am Bildschirm.


Infos und Handlungsanweisungen in der App (© agro-kontakt)

Über eine App auf dem Smartphone wird er informiert und kann entsprechend schnell reagieren. So können Erkrankungen frühzeitig erkannt oder sogar verhindert werden, und das erlaubt auch die Reduzierung des Medikamenteneinsatzes.

Einen Schritt weiter gehen Systeme einzelner Hersteller zum schonenden Trockenstellen von Kühen. Dieses Trockenstellen leitet eine Zeit ein, in der die Kühe nicht gemolken werden. Sie dient als Vorbereitung auf die nächste Kalbung und die damit folgende neue Phase der Milchbildung (Laktation). Dabei sorgt KI mittels eines speziellen Algorithmus tierindividuell einige Tage lang dafür, dass der Melkvorgang jeden Tag etwas früher beendet wird. Damit wird die Rückbildung von Milchdrüse und Milchbildung auf schonende und natürliche Weise eingeleitet.

Stufe 3: Zukunftsmusik
Im Status eines Forschungsprojekts ist derzeit noch smartMILC[3], die Livsmart Multisensor Integration for Livestock Care. Hier sollen Sensordaten mittels Künstlicher Intelligenz ausgewertet und zur Überwachung des Tierwohls herangezogen werden.

 

Konkret werden dazu Multisensoren mit Kameras, Mikrofonen und Tiefensensoren so installiert, dass sie den gesamten Stall abdecken. Die damit gesammelten visuellen und akustischen Daten erlauben die automatische Erkennung und Auswertung durch KI. Entscheidend ist, dass dabei ein lernfähiges System entsteht, das anhand von Körperhaltung und Verhalten der Tiere sowie einer gegebenenfalls veränderten Geräuschkulisse im Stall nicht nur einen Handlungsbedarf erkennt, sondern auch entsprechende Handlungsempfehlungen ableitet.

Großes „ABER“!
Trotz aller Potenziale werden zunehmend auch Warnungen und Forderungen laut, dass seitens der Politik ganz grundsätzlich ein klarer Rahmen für Künstliche Intelligenz geschaffen werden müsse. Darüber berichtete u. a. auch die Tagesschau am 31. Mai 2023[4]: „Wenn KI-Systeme Entscheidungen treffen oder vorgeben, die Menschen nicht bestätigen oder nachvollziehen können, ist das eine Riesengefahr“, warnt etwa Joachim Weickert, Professor für Mathematik und Computerwissenschaften an der Universität des Saarlands. Er sagt: ‚Ein KI-System ist praktisch eine riesige Blackbox, die an Daten trainiert wurde.‘ Wenn die Daten einseitig und mit Vorurteilen behaftet seien, egal ob beabsichtigt oder nicht, „dann wird das KI-System genau solche Vorurteile in seine Empfehlungen einbauen“.

Mit Blick auf die Landwirtschaft weist auch Prof. Brunsch auf Risiken und Nebenwirkungen hin: „Zu diesen Nebenwirkungen, die sich zu Risiken entwickeln können, gehört die Abgabe und Digitalisierung von Erfahrungen. Diese betriebsspezifischen Erfahrungen sind eine wesentliche Größe im Wettbewerb. Digitalisiert sind sie praktisch beliebig kopierbar. Gleichzeitig mit der Digitalisierung steigt auch die Gefahr der Zentralisation von Wissen und der damit verbundenen Gefahr der Monopolisierung. […] Wollen Landwirte zu „Algorithmenbefolgern“ werden, denen zunehmend die eigene Urteilsfähigkeit abhandenkommt? Will die Gesellschaft das Wissen über die Erzeugung unserer Lebensgrundlage – der Nahrung – in die Hände weniger globaler Wissensmonopolisten legen?“ Auch dies seien Fragen, auf die schnell eine Antwort gefunden werden müsse.2

Ob die Menschheit es schafft, einen weltweit verantwortlichen Umgang mit der Künstlichen Intelligenz zu gewährleisten und deren unbestrittene Potenziale auch im Stall – etwa für mehr Tierwohl – nutzbar zu machen, könnte sich letztlich als eine existenzielle Frage herausstellen.

[1] https://www.rundblick-niedersachsen.de/ersetzt-kuenstliche-intelligenz-bald-den-landwirt-im-stall/

[2] https://wgmev.de/download/kuenstliche-intelligenz-im-kuhstall/

[3] https://www.bmel.de/SharedDocs/Praxisbericht/DE/kuenstliche-intelligenz/SmartMILC.html

[4] https://www.tagesschau.de/inland/regional/saarland/sr-forscher-warnen-eindringlich-vor-ki-risiken-100.html