Tierhaltung

Tierwohl – in Theorie und Praxis

Promovierte Agrarwissenschaftlerin, Referentin in der Stabsstelle Nutztierstrategie des BMEL, begeisterte Milchkuhhalterin und erfolgreiche Züchterin mit Fokus auf Tierwohl und hohe Lebensleistungen: DIALOG MILCH hat Frau Dr. Kirsten Kemmerling im bergischen Much besucht.

Im Jahr 2009 hat die promovierte Agrarwissenschaftlerin Kirsten Kemmerling mit ihrer Schwester Heike, einer Diplom-Geografin, den elterlichen Betrieb übernommen. Die Spielberg-Holsteins GbR bewirtschaftet heute 26 Hektar Grünland, 9 Hektar Ackerland und 1,5 Hektar Wald. Der Tierbestand umfasst 43 schwarz- und rotbunte Holstein Kühe mit Nachzucht sowie zwei Braunviehkühe mit Nachzucht.

Eine Besonderheit des Betriebs ist die Milchleistung. Sie liegt mit durchschnittlich 10.900 kg Milch pro Kuh und Jahr deutlich über dem Durchschnitt in Deutschland, der für das Jahr 2020 mit 8.457 kg[1] berechnet wurde. Viel entscheidender ist aber die Lebensleistung vieler Kühe auf diesem Betrieb; sie liegt im Schnitt bei über 40.000 kg.


(Bildquelle BMEL)


Steckbrief

Dr. agr. Kirsten Kemmerling, 42 Jahre, eine zehnjährige Tochter, Referentin im BMEL, Stabstelle Nutztierstrategie, begeisterte Halterin und Züchterin von Schwarz- und Rotbunten Holstein Kühen, in GbR mit Mutter und Schwester in Much, Rhein-Sieg-Kreis, hohe Lebensleistung, Tiergesundheit und Tierwohl als Strategie.


Etliche Kühe erreichen oder überschreiten in ihrem Leben sogar die magische Grenze von 100.000 kg Milch. Diese Menge spricht für viele Laktationen[2] und für eine lange Lebenszeit. Einige erreichen mit der erzeugten Milch sogar die Marke von 10.000 kg hochwertigem Fett und Eiweiß. Ein Beispiel aus der jüngsten Zuchtgeschichte der Kemmerlings ist die Braunviehkuh Alessa, die in 16 Lebensjahren und 11 Laktationen 168.865 kg Milch mit über 15.000 kg Fett und Eiweiß lieferte und damit rassenübergreifend zu den drei leistungsstärksten Kühen in punkto Langlebigkeit in Deutschland gehört.

Zu solch hohen Lebensleistungen kommen die Kemmerlings nicht von ungefähr. Sie setzen seit vielen Jahren auf eine längere Zeitspanne zwischen den Kalbungen der Kühe (vgl. Interview „Nachgefragt“). „Mit dieser verlängerten Zwischenkalbezeit waren wir eine Zeit lang etwas ‚exotisch unterwegs‘. Inzwischen haben aber etliche weitere Betriebe die Vorteile dieses Konzepts erkannt, denn die damit verbundene verlängerte Regenerationszeit der Kühe kommt deren Gesundheit, dem Tierwohl und der Lebensleistung zugute“, ist Kirsten Kemmerling überzeugt.


Etliche Kühe der Kemmerlings erreichen oder überschreiten in ihrem Leben die magische Grenze von 100.000 kg Milch.


Verlängerte Zwischenkalbezeiten tragen zu den hohen Lebensleistungen der Kühe bei.

Stichwort „Tierwohl“

Hauptberuflich ist Dr. Kirsten Kemmerling im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) tätig. Seit Ende 2017 befasst sie sich in der Stabsstelle Nutztierstrategie mit dem Thema Tierwohl. Das Ziel lautet, unter Berücksichtigung von Umweltgesichtspunkten und der wirtschaftlichen Existenz der Betriebe eine weitere Verbesserung der Tierwohlstandards in der Nutztierhaltung in Deutschland anzustoßen und umzusetzen (vgl. Infokasten Pilotprojekt).

Für Dr. Kirsten Kemmerling ist allein schon aus ihrer persönlichen Sicht als Milchkuhhalterin klar, dass Änderungen nicht nur einseitig von der Landwirtschaft erwartet werden können. Wenn höhere Tierwohlstandards Geld kosten, dann muss auch die Gesellschaft ihren Beitrag dazu leisten, sei es über steuerfinanzierte Fördermittel, über kostendeckende Verkaufspreise in den Lebensmittelgeschäften – oder mit einem Mix beider Instrumente.

Änderungen erwartet


Die Tierwohlkriterien, die derzeit diskutiert werden, sollen auf freiwilliger Basis umgesetzt werden. Dr. Kirsten Kemmerling ist überzeugt: „Die Zahl der Tiere auf einem Betrieb sagt auf jeden Fall nichts über das dort erreichte Tierwohl. Es gibt kleine und große Betriebe, auf denen es den Tieren top geht – und es gibt kleine wie große Betriebe, wo noch Luft nach oben ist. Auf jeden Fall bietet das Tierwohlkonzept in seiner aktuell diskutierten Form die Chance für viele Betriebe, dass das, was sie bereits gemacht haben, dann auch honoriert wird.“ Wenn diese Honorierung über den Markt erfolgen soll, wünscht sich Dr. Kirsten Kemmerling einen europäischen Ansatz, bei dem es ein ‚billiger von hinter der Grenze, dafür mit niedrigeren Standards‘ nicht mehr gibt.


Allerdings: Auch wenn der durchschnittliche Tierbesatz in Deutschland mit weniger als einer Großvieheinheit[3] pro Hektar recht gering ist (vgl. Erläuterungen hier), erwartet Kemmerling auf absehbare Zeit weitere Diskussionen zu den viehstarken Regionen wie etwa Vechta-Cloppenburg; hier wäre es nach ihrer Meinung sinnvoll, Gülle in Wasser und Feststoffe zu separieren und die Feststoffe dann – als transportwürdigen Dünger und Ersatz für Mineraldünger – in reine Ackerbaugebiete zu vermitteln. Auch bei der seltener werdenden Anbindehaltung rechnet sie angesichts der Diskussion zum Tierwohl damit, dass dieses Thema verstärkt auf die Tagesordnung rücken wird.


Ein „Kälber-Kindergarten“ auf dem Betrieb Kemmerling.

In der Spielberg-Holsteins GbR der Kemmerlings steckt viel Herzblut. Trotzdem traut sich Dr. Kirsten Kemmerling keine Prognose zu der Zukunft des Betriebs zu. „Ich weiß nicht, wie sich die beruflichen Neigungen meiner Tochter entwickeln werden. Ich weiß nicht, ob wir in Zukunft Flächen verlieren werden; ich weiß aber, dass wir uns weiter für Tierwohl einsetzen werden. Und sollten wir irgendwann die Milchkuhhaltung aufgeben müssen, werden wir uns trotzdem weiter mit Tieren befassen.“

Nachgefragt:

DIALOG MILCH: Frau Dr. Kemmerling, wie werden so hohe Lebensleistungen erreicht?

Dr. Kirsten Kemmerling: Zunächst ist klar: Man muss sich gut um die Kühe kümmern! Und das bedeutet für uns: Die Tiere sind keine Produktionsgegenstände, sondern Lebewesen. Wir sehen sie als unsere Mitarbeiter.

DIALOG MILCH: Aber das allein ermöglicht doch noch keine so enorm hohen und anhaltenden Leistungen. Was gehört noch dazu?

Dr. Kirsten Kemmerling: Wir haben im Lauf der Jahre festgestellt, dass den Kühen eine auf rund 550 Tage verlängerte Zwischenkalbezeit sehr guttut. Deshalb melken wir die Kühe länger, bevor sie erneut besamt werden. Dabei verzichten wir an manchen Tagen vielleicht auf das eine oder andere Kilogramm Spitzenleistung, erzielen dafür aber über vergleichsweise lange Zeiträume ausgeglichen hohe Leistungen. Und darauf können wir mit unserer Fütterung auch sehr genau und bedarfsgerecht, das heißt tierindividuell, eingehen. Für uns sind auch die Inhaltsstoffe entscheidend; was nützen mir 12.000 kg bei unter 4 % Fett und 3,2 % Eiweiß? Da sind wir mit im Schnitt 4,5% Fett und 3,6% Eiweiß mit besseren Werten unterwegs.

DIALOG MILCH: Welche Strategie haben Sie im Hinblick auf die Gesundheit der Tiere?

Dr. Kirsten Kemmerling: Wir haben den Tierarzt einmal im Monat zur Bestandskontrolle auf dem Hof, weil wir einfach sicherstellen möchten, dass immer alles in Ordnung ist. Probleme, wie etwa eine Euterentzündung, sind bei uns äußerst selten. Dafür war der Tierarzt bislang in diesem Jahr nur dreimal da.

DIALOG MILCH: Gab es denn einen Grund, aus dem der Tierarzt häufiger gebraucht wurde?

Dr. Kirsten Kemmerling: Fremdkörper, die die Kühe mit dem Futter fressen, machen uns Kummer, weil sie Entzündungen verursachen können. Es wird so viel Unrat in die Felder und Wiesen geworfen, den wir selbst mit Magneten im Futtermischwagen nicht aussortiert bekommen. Das hat uns bei 15 % der Kühe in diesem Jahr schon so viel Kummer bereitet, dass wir den Tierarzt rufen mussten. Wir würden uns wünschen, dass die Menschen bei dem Umgang mit ihrem Müll mehr Rücksicht auf die Tiere und die Umwelt nehmen würden.

Pilotprojekt: Tierwohl im Praxistest

Das Ministerium für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen (MUNLV) hat kürzlich einen Genehmigungs-Praxistest für Rinder- und Schweineställe, die für mehr Tierwohl umgebaut oder neugebaut werden, durchgeführt. Ein wesentliches Ergebnis war, dass es viele „äußere“ Einflussfaktoren gibt, die das Genehmigungsverfahren beeinträchtigen, worauf der Landwirt aber keinen Einfluss hat. Dazu gehören beispielsweise FFH-Gebiete, Schutzgut Wald oder die Nähe zu Wohngebieten. Zu der Frage, ob aus Tierwohlställen unter Umständen höhere Emissionen zu erwarten sind und wie damit gegebenenfalls zu verfahren wäre, stehen derzeit noch manche Antworten aus.

[1] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/153061/umfrage/durchschnittlicher-milchertrag-je-kuh-in-deutschland-seit-2000

[2] Die Laktationsperiode ist die Zeit zwischen zwei Kalbungen, in der eine Kuh Milch bildet (Milchbildungsperiode) und gemolken wird. Eine Laktationsperiode dauert im Durchschnitt ca. 305 Tage.

[3] https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Glossary:Livestock_unit_(LSU)/de