DIALOG MILCH: Herr Prof. Starke, gibt es in der heutigen Milchkuhhaltung ein generelles Konfliktpotenzial zwischen Tierwohl und Umweltschutz?
Alexander Starke: Diese Frage ist pauschal kaum zu beantworten. Ich denke nicht, dass hier ein generelles Konfliktpotenzial besteht, aber es gibt ja auch nicht die Milchkuhhaltung. Die ist in den Bergen der Karpaten anders als in nord- oder ostdeutschen Großbetrieben oder in den Ställen im Allgäu. Es kann allerdings ein Konfliktpotenzial geben, und zwar in Abhängigkeit davon, wie hoch die Tierkonzentration pro Flächeneinheit ist. So gibt es Extreme, wo sehr viele Milchkühe gehalten werden und wo viele Emissionen entstehen. Denken Sie etwa an die Büffelherden, die früher durch die nordamerikanische Prärie zogen: Wenn eine Herde mit 10.000 Tieren an einer Stelle war, wuchs da kein Grashalm mehr. Das ist also eine Frage der Extreme, und das bedeutet, dass es zwischen ordnungsgemäßer Milchkuhhaltung und Tierwohl und Umweltschutz keinen generellen Konflikt gibt.
(BU:) Prof. Dr. Alexander Starke (©Starke, Universität Leipzig)
DIALOG MILCH: Wie sind die Haltungssysteme früher – Stichwort gute alte Zeit – im Vergleich zu gut geführten Milchkuhbetrieben von heute mit Blick auf dieses Konfliktpotenzial einzuschätzen?
Alexander Starke: Die Haltungssysteme heute – wenn man moderne, größere Einheiten mit modernen, sensorbasierten Überwachungssystemen in vollautomatisierten Ställen mit ordentlicher Klimaführung und ergonomisch gestalteten Arbeitsplätzen nimmt – sind definitiv für die Tiere und die in diesem System arbeitenden Menschen ein Fortschritt. Wenn Sie jedoch ein schlecht geführtes modernes System mit dem kleinen alten Weidebetrieb vergleichen, dann gewinnt für das Tier vielleicht eher der alte Betrieb. Sie müssen aber auch denjenigen sehen, der noch bis in die 40er und 50er Jahre auch bei Regen auf der Weide mit der Hand gemolken hat. Das möchte heute niemand mehr machen.
Moderne Boxenlaufställe sind auf Tierwohl ausgerichtet (©Frangenberg, agro-kontakt)
Die Technik erkennt Abweichungen am schnellsten – und ermöglicht so auch schnelle Reaktionen der Tierhalter ( © Frangenberg, agro-kontakt)
Und: Auch früher gab es nicht die Haltungssysteme. Es gab und gibt ganzjährige Anbindehaltung, es gibt im Allgäu aber auch die Betriebe mit Anbindehaltung im Winter und Weidehaltung im Sommer. Auch hier sollte man nicht schwarz-weiß malen. Die gut geführten modernen Betriebe haben mit Blick auf Tierwohl und das Wohl der Menschen, die dort arbeiten, deutliche Vorteile. Auch Qualität und Hygiene sind dank Kühlungs- und Lagerungsmöglichkeiten inklusive Wärmerückgewinnung gerade in der heutigen Milchwirtschaft Bereiche, in denen die Technik im Vergleich zu früher viele positive Entwicklungen ermöglicht hat.
DIALOG MILCH: Noch eine letzte Frage: Gibt es nach Ihrer Einschätzung systemische Schwachstellen in der heutigen Milchkuhhaltung, an denen Gesetzgeber, Tierhalter, Züchter und/oder Tierärzte ansetzen sollten?
Alexander Starke: Ja selbstverständlich – und das ist immer so! In jeder Zeit gibt es Schwachstellen, es gibt aber auch viele Chancen. Mit Blick auf die Milchkuhhaltung war und ist der Mensch wohl die größte Schwachstelle. Der Mensch im System, der gut qualifiziert ist, kann eine sehr gute Tierhaltung auch sehr gut managen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass entsprechende Anforderungen an die Qualifikationen des betreuenden Personals gestellt werden müssen, und zwar nicht nur an den, der melkt, sondern auch an den, der das Tier hält. Jemand, der bestimmte Haltungssysteme nutzen möchte, sollte nachweisbar über die Qualifikation verfügen, ein solches System mit dem Tier darin zu managen.
Dafür gibt es die landwirtschaftliche Fachausbildung etwa zum Tierwirt; mit der zunehmenden Größe von Betrieb und Tierhaltung kommen auch betriebswirtschaftliche Anforderungen hinzu. Nach meinem Dafürhalten brauchen Landwirte ebenso wie Tierärzte eine Weiterbildungspflicht, und deren Einhaltung muss – ohne überbordende Bürokratie – überprüft werden können. Allerdings ist auch hier eine pauschale Aussage schwierig. So hat jemand, der seit zehn Jahren unter der Anleitung eines Landwirtschaftsmeisters in einem Stall arbeitet, mit Sicherheit eine ganz andere Qualifikation als jemand, der nach seinem Abitur ganz neu in die Tierhaltung einsteigt. Für alle müssten Strukturen geschaffen werden, die eine Weiterbildung mit praktischer und theoretischer Prüfung ermöglichen.
Das System Milchkuhbetrieb ist überdies sehr komplex, und die Anforderungen steigen mit dem betrieblichen Wachstum. Auch bei den Beratern ist deshalb eine entsprechende Qualifikation sehr wichtig, und dies gilt ebenso für die akademische Ausbildung von Agrarwissenschaftlern und Veterinärmedizinern. Das bedeutet: Bei den Kontrollbehörden, Veterinärämtern oder dem QS-System der Branche selbst muss es Verfahren zur Überprüfung geben, bei denen nicht nur mit dem Zollstock etwa die Größe von Liegeboxen nachgemessen wird, sondern auch entsprechende Tiergesundheitsmerkmale einfließen. Hier sehe ich durchaus noch Defizite, die es abzubauen gilt.
Moderne Ställe sind hell und luftig – mit optimaler Klimaführung ( © Frangenberg, agro-kontakt
Wir müssen uns aber auch Gedanken dazu machen, dass derjenige, der in der Landwirtschaft arbeitet, eine gewisse Wertschöpfung mit seinem Produkt erzielen und damit seine Familie ernähren muss. Zurzeit ist es in der Landwirtschaft leider so, dass es an gesellschaftlicher Anerkennung fehlt und die Einkommenssituation der Betriebe zum Teil schwierig ist. Wie sollte man unter diesen Bedingungen jemanden motivieren? Auch hier besteht also Handlungsbedarf, zu dem sich alle Beteiligten weitere Gedanken machen müssen, um eine nachhaltige, leistungsfähige Milchkuhhaltung mit einer entsprechenden Wertschöpfung für die Landwirte in die Fläche zu bringen.
DIALOG MILCH: Herr Professor Starke, wir danken Ihnen sehr herzlich für diese offene Einschätzung!